Dr. Jörg Rothermel ist seit 1997 im VCI Verband der Chemischen Industrie e. V., Frankfurt, tätig, wurde 2014 Leiter der neu eingerichteten Abteilung Energie, Klimaschutz und Rohstoffe im Verband und damit Mitglied der Geschäftsführung. Außerdem ist er Geschäftsführer der Energieintensiven Industrien in Deutschland (EID), einer Interessengemeinschaft der sechs energieintensivsten Grundstoffindustrie-Branchen Nichteisenmetalle (WVM), Stahl (WV Stahl), Baustoffe (BBS), Papier (VdP), Glas (BV Glas) und Chemie (VCI). Im Interview mit dem eot spricht der promovierte Chemiker unter anderem über die Wettbewerbsfähigkeit mit klimaneutralen Prozessen, das Klimaschutzsofortprogramm der Bundesregierung und weshalb sich Kunststoffe und Nachhaltigkeit keinesfalls ausschließen.
Der VCI hat sich über das Klimaschutzsofortprogramm der Bundesregierung erfreut gezeigt. Gleichzeitig haben Sie jedoch angemahnt, dass Klimaschutz kein Selbstläufer ist, sondern auch der internationale Wettbewerb im Blick behalten werden muss. Was raten Sie den Unternehmen, deren Interessen Sie vertreten? Wie kann Klimaschutz mit wirtschaftlichem Erfolg unter einen Hut gebracht werden?
J. Rothermel: Der internationale Wettbewerb muss sowohl bei der bestehenden als auch der künftigen Produktion auf Basis neuer klimaneutraler Technologien im Blick behalten werden. Eine Klimaschutzpolitik, die zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit führt und Carbon Leakage verursacht, entzieht einer gewollten Transformation den Boden. Diese Ursache-Wirkungskette muss unbedingt vermieden werden, oder es geht mit dem Industriestandort Deutschland bergab. Die neuen klimaneutralen Prozesse werden aufgrund der hohen erforderlichen Investitionen und der deutlich höheren Betriebskosten noch lange nicht wettbewerbsfähig sein gegenüber den konventionellen Prozessen, wie sie noch der Rest der Welt betreibt. Die Unternehmen werden die Entwicklung dieser Prozesse in den nächsten Jahren vorantreiben müssen. Investitionen werden auf absehbare Zeit aber nur bei entsprechender staatlicher Unterstützung zum Ausgleich der Kostennachteile im internationalen Wettbewerb getätigt werden können.
Sie kritisieren am Klimaschutzsofortprogramm der Bundesregierung, das Thema „wettbewerbsfähige Strompreise“ sei zu wenig adressiert worden. Was fordern Sie dahingehend konkret von der Politik?
J. Rothermel: Die Strompreise belasten derzeit stark die Wettbewerbsfähigkeit der bestehenden Produktion. Die neuen klimaneutralen, stärker strombasierten Technologien werden aber bei diesen hohen Preisen keine Chance auf Realisierung haben. Konkrete Forderung deswegen von uns: Zur Entlastung der bestehenden Produktion muss zumindest alles getan werden, um die staatlich verursachten Belastungen im Strompreis, wie aktuell schon für die EEG-Umlage angedacht, so weit wie möglich zu minimieren. Mittel- bis langfristig brauchen wir einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis, der auch Planbarkeit für die Unternehmen ermöglicht.
Europa will als erste Region klimaneutral bis zum Jahr 2050 werden. Wie können andere internationale Akteure überzeugt werden, da nachzuziehen?
J. Rothermel: Wir brauchen dafür eine sehr viel aktivere internationale Klimadiplomatie. Wir denken, dass ein von verschiedenen Seiten unterstützter Klimaclub der richtige Ansatz sein kann. In dem gerade von der EU diskutierten Ansatz für Grenzausgleichsmechanismen (CBAM), der Europa abschotten und den Rest der Welt zwingen soll, sich unseren Klimaschutzbemühungen anzuschließen, sehen wir keinen geeigneten Weg.
Neben dem Klimaschutz setzen Unternehmen auch verstärkt darauf, nachhaltig zu agieren. Der VCI erklärte jüngst, dass Kunststoffe und Nachhaltigkeit sich nicht ausschließen. Wie passen diese beiden Dinge zusammen?
J. Rothermel: Kunststoffe fördern in ihrer Vielfalt an vielen Stellen des täglichen Lebens die Nachhaltigkeit. Sie helfen Gebäude zu isolieren, tragen erheblich zum notwendigen Leichtbau im Transportbereich bei und ermöglichen den Bau effizienterer Windkraft- und Solaranlagen. Dadurch schonen sie Ressourcen und tragen zum Klimaschutz bei. Um auch den Umgang mit Kunststoffen nachhaltiger zu machen, müssen wir vermeiden, dass Kunststoffabfälle in der Umwelt landen und das Recycling und andere Technologien zur Kreislaufführung von Kunststoffen vorantreiben. So gelingt der chemischen Industrie auch die Abkehr von fossilen Rohstoffen. Deshalb arbeitet sie auch intensiv an der Weiterentwicklung des chemischen Recyclings.
Das Jahr 2022 ist noch jung, aber es ist schon absehbar, dass Corona weiter ein großes Thema auch in der Wirtschaft sein wird. Was erwarten Sie für die Branche in diesem Jahr? Und wo werden die größten Herausforderungen für die Chemie- und Pharmaindustrie liegen?
J. Rothermel: Wir gehen derzeit davon aus, dass die Produktion der Branche auch in diesem Jahr zulegen wird. Einen Anstieg von zwei Prozent halten wir für möglich. Die Nachfrage aus den Kundenindustrien der Branche nach unseren Produkten ist unverändert groß. Aber die Lieferkettenprobleme dämpfen noch immer die positive Entwicklung. Die Hoffnung der Unternehmen richtet sich hier auf eine Besserung im zweiten Halbjahr. Politisch werden die Vorhaben der EU aus dem Green Deal die Unternehmen und den VCI intensiv beschäftigen. Dazu gehören zum Beispiel die bevorstehenden Vorschläge aus Brüssel zur Chemikalienstrategie oder die Regulierung für die Umsetzung des Klimaschutzpaketes „Fit for 55“. National setzen wir uns mit einem 9-Punkte-Vorschlag intensiv dafür ein, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren nicht nur für Windkraft- oder Photovoltaikanlagen halbiert werden sollten, wie es Bundesminister Habeck angekündigt hat, sondern dass dies auch beim Genehmigungsprozess von Industrieanlagen beherzigt werden muss. Nur dann kann die Transformation des Industrielandes Deutschland zur Klimaneutralität bis 2045 gelingen. Dafür wäre die Verabschiedung eines Planungsbeschleunigungsgesetzes durch die Bundesregierung noch in diesem Jahr eine wichtige Grundlage.