Die deutsche Stromversorgung steht in den kommenden Jahren vor einer Belastungsprobe: Um bis 2025 das Ziel einer sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Stromversorgung für Deutschland zu erreichen, ist ein stark beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien notwendig. Gleichzeitig gilt es, die Kapazitäten für die Verstromung von Erdgas deutlich zu erweitern; diese können später auf Biogas und „grünen“ Wasserstoff als Brennstoffe umgestellt werden. Gas wird als stabile und vergleichsweise emissionsarme Ergänzung noch für mehr als zehn Jahre ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Energiesystems sein, denn der Energiebedarf steigt und der Ausbau erneuerbarer und konventioneller Erzeugungskapazitäten und Netze läuft noch nicht schnell genug. Parallel ist es für die akute Versorgungssicherheit notwendig, die ursprünglich bis 2025 zur Abschaltung vorgesehenen Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 10 GW so lange weiterzubetreiben, bis diese auf emissionsarme, wasserstofffähige Gaskraftwerke umgestellt sind – trotz der kurzfristig negativen Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit. Dies sind die Ergebnisse der Studie „Zukunftspfad Stromversorgung – Auf dem Weg zu einer sicheren, bezahlbaren und nachhaltigen Stromversorgung für Deutschland bis 2025“, die die Unternehmensberatung McKinsey & Company Corp., New York, in der vergangenen Woche vorgestellt hat.
Reduktion des Gaspreises entscheidend für Stromversorgung
Die Großhandels-Strompreise sind 2022 um den Faktor 7 gestiegen, die Endkundenpreise haben sich im Jahresmittel verdoppelt. Das gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Auf Dauer lässt sich der Preisunterschied zu anderen Industrienationen durch Subventionen nicht ausgleichen, so Alexander Weiss, Senior Partner der McKinsey und Leiter der weltweiten Energieberatung. In dem Report wurden daher Pfade untersucht, die die Strompreise in Deutschland bis 2025 mindestens auf das Niveau vergleichbarer Industrienationen bringen könnten und zugleich die Versorgungssicherheit sowie das Einhalten der für 2030 formulierten CO2-Emissionsziele ermöglichen.
Die Analyse zeigt: Der massive Ausbau der erneuerbaren Energie sowie die Kapazitätserweiterung für Erdgas und der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken zusammen würden 2025 nach Berechnungen von McKinsey noch immer zu einem Großhandels-Strompreis von 120 Euro/MWh führen – das Dreifache des historischen Mittels.
Um langfristig wieder ein wettbewerbsfähiges Preisniveau zu erreichen, ist daher eine deutliche Reduzierung des Erdgaspreises notwendig, da nach dem Prinzip der Merit Order die Verstromung von Erdgas in vielen Stunden preissetzend für den Gesamtmarkt ist. Erdgasproduzenten benötigen laut A. Weiss jedoch Abnehmer, die sich langfristig vertraglich binden, um ihre hohen Investitionen sicher finanzieren und den Preis signifikant senken zu können. Deutschland und seine europäischen Partner sollten darum auch den Abschluss entsprechend langfristiger Abnahmeverträge in ausreichendem Umfang erwägen. Bei einer deutlichen Senkung des Gaspreises auf den prognostizierten LNG-Preis von 28 Euro/MWh in 2025 könnte der Strompreis auf bis zu 75 Euro/MWh fallen.
Sinkende Erdgaskosten sind der entscheidende Schlüssel, um auch die CO2-Emissionen der Stromerzeugung zu reduzieren. Wenn die Erdgaskosten hoch bleiben, könnte zu viel Kohle zur Kompensation zum Einsatz kommen, so A. Weiss. Eine Verlängerung der Kernkraftwerk-Laufzeiten über April 2023 hinaus könnte in den Szenarien für 2025 den Großhandels-Strompreis zusätzlich um 5 Euro/MWh bis 15 Euro/MWh senken. Einzelmaßnahmen werden voraussichtlich nicht ausreichen, um die Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit in Einklang zu bringen – ein Gesamtpaket und eine konzertierte Aktion aller Akteure sind notwendig.
Erfolgsfaktoren im Detail
Das beschriebene Maßnahmenpaket erfordert nach den Berechnungen von McKinsey weit mehr als eine Anpassung der Ausbauziele oder Laufzeiten. Ein Ausbau erneuerbarer Energien in derartigem Ausmaß erfordert eine Koordination über die Wertschöpfungskette hinweg. Das Spektrum zu koordinierender Tätigkeiten reicht dabei von Flächenumwandlung und Genehmigungsprozessen über ein Aufrüsten der industriellen Produktion erneuerbarer Energien bis zur Sicherstellung ausreichender Planungs- und Baukapazitäten. Um die ehrgeizigen Ausbauziele für Solar- und Windenergie umzusetzen, müssen 44 GW Photovoltaik- und 25 GW Windanlagen-Kapazität bis 2025 zugebaut werden, bis 2040 sogar mehr als 300 GW Photovoltaik und mehr als 100 GW Windanlagen-Kapazität.
- Windkraftanlagen an Land: Im Durchschnitt dauert ein Wind-an-Land-Projekt in Deutschland sieben Jahre vom Start bis zur Stromproduktion – im Vergleich zu den Bestwerten von 4,5 Jahren in Spitzenausbauzeiten (2013) hat sich die Projektlaufzeit damit deutlich verlängert. Dies ist auch in der Projektpipeline spürbar: Momentan befinden sich über 8 GW Windanlagen an Land in verschiedenen Stadien der Planung. 2021 wurden zum Beispiel von 4,5 GW geplantem Ausschreibungsvolumen nur Zuschläge für 3,3 GW erteilt. Über ein Drittel der Projekte werden sogar ganz abgelehnt, meist weil sich im Laufe des Genehmigungsprozesses Regulierungen geändert haben. Gelingt es, den gesamten Prozess von sieben auf rund vier Jahre zu beschleunigen, können Projekte im Umfang von rund 3 GW, die unter jetzigen Bedingungen in den Jahren 2026 bis 2028 fertiggestellt würden, bereits bis zum Jahr 2025 ans Netz gehen.
- Photovoltaik: Die vergleichsweise kurze Umsetzungsdauer – durchschnittlich nur drei Jahre für Freiflächenanlagen – macht Photovoltaik attraktiv für einen schnellen Kapazitätsausbau. Bis 2025 liegt das größte Potenzial bei einem erhöhten Ausbau freistehender Photovoltaikanlagen und Photovoltaikanlagen auf Dächern. Langfristig, also über 2025 hinaus, könnten zunehmend auch Zweinutzungsflächen wie Äcker vielversprechend sein. In Deutschland sind ausreichend Flächen für den Photovoltaikausbau vorhanden – 14.400 qkm Freifläche haben insgesamt rund 860 GW Potenzial. Zusätzlich sind, konservativ geschätzt, rund 900 qkm Dachflächen in Deutschland für Photovoltaikanlagen geeignet und haben ein Gesamtpotenzial von rund 130 GW. Das Potenzial der Frei- und Dachflächen ist damit ausreichend für die im Osterpaket formulierten Ausbauambitionen von weiteren 44 GWauf insgesamt 108 GW Photovoltaikanlagen in Deutschland. Entsprechend sollte der Fokus auf Maßnahmen liegen, die den Ausbau auf diesen Flächen beschleunigen.
- Windkraftanlagen auf See: Aufgrund der langen Umsetzungsdauer von Windkraftanlagen auf See stellen sie für einen beschleunigten Ausbau bis 2025 nur begrenztes Potenzial dar. Derzeit in Entwicklung sind sechs Windparks mit geplanter Inbetriebnahme bis 2025 und einer Gesamtkapazität von 2,8 GW. Für drei weitere Windparks, mit momentan geplanter Inbetriebnahme Anfang 2026, könnte bei vorgezogenem Baubeginn sowie in einem der drei Fälle mit beschleunigtem Netzanschluss eine Fertigstellung schon 2025 möglich sein. Das würde eine zusätzliche Kapazität von rund 1 GW im Jahr 2025 ermöglichen. Weitere Anlagen mit einer Gesamtkapazität von 1 GW sind in Planung und werden voraussichtlich Ende 2026/Anfang 2027 fertig, haben dann allerdings noch keinen Netzanschluss – damit ist eine Beschleunigung auf 2025 unwahrscheinlich.
- Kohlekraftwerke: Wegen sinkender Auslastung und der geringen erzielbaren Margen standen Kohlekraftwerke in den vergangenen Jahren unter einem hohen Kostendruck. Dazu kommt, dass vor dem Hintergrund der Kohleausstiegsplanung die Instandhaltungsaufwendungen für Kohlekraftwerke deutlich reduziert wurden. Dies zeigt sich in einer erhöhten Rate von ungeplanten Kraftwerksausfällen. Insbesondere für viele ältere Kohlekraftwerke betrug diese im Jahr 2021 mehr als 15 % bis 20 % gegenüber einem Industrie-Bestwert von 5 %. Nimmt man geplante Wartungszyklen dazu, ist die Verfügbarkeit der Kohlekraftwerke in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt von rund 90 % auf 80 % zurückgegangen.
95 % Abhängigkeit von China bei PV-Modulen
Aus Sicht von A. Weiss sind für die ambitionierten Ausbauziele Lieferketten Voraussetzung, die sowohl skalierbar als auch resilient sind – also hinreichend unabhängig von einzelnen Ländern. Bei der Photovoltaik gilt es, in Europa eine größere Unabhängigkeit von anderen Ländern zu erreichen. Hat Deutschland im Jahr 2021 55 % des Erdgases aus Russland bezogen, so bezieht Deutschland aktuell 95 % der Solarzellen direkt oder indirekt aus China. Der Wieder-Aufbau einer zumindest europäischen Photovoltaik-Industrie erscheint bei den Ausbauzielen eine notwendige Option zu sein. Eine Relokalisierung der Photovoltaikproduktion – vor rund 15 Jahren war Deutschland Weltmarktführer im Bereich Photovoltaik – würde das Risiko für Disruptionen in der Lieferkette verringern.
Auch für die Onshore-Windindustrie gilt: Diese Industrie in Europa zu halten und zu stärken, wäre ein Vorteil. Denn noch haben europäische Windanlagenhersteller einen deutlichen Anteil der Wertschöpfung und Produktion von Windanlagen an Land in ihrer Hand. Allerdings besteht die Gefahr, dass eine Verlegung der Produktion nach Asien einsetzt, ähnlich wie bei der Photovoltaikindustrie vor 10 bis 15 Jahren. Momentan kämpfen europäische Hersteller mit geringer Profitabilität und sinkender Wettbewerbsfähigkeit wegen erhöhter Kosten für Rohstoffe, Logistik und Strom sowie Überkapazitäten. Durch diese Profitabilitätsprobleme wird es für Hersteller immer schwieriger, große Investitionen in Europa zu tätigen, die Grundlage eines skalierten Ausbaus von Windenergie sein könnten. Dem möglichen Bedrohungsszenario einer abgewanderten Windanlagen-Produktion gilt es beispielsweise mit veränderten Ausschreibungskriterien und klaren Ausbauzielen entgegenzuwirken, um auch hier zu starke Abhängigkeiten zu vermeiden, erklärt A. Weiss.
Aktivierung von Arbeitskräften für Erneuerbaren-Ausbau nötig
Ein weiterer zentraler Bestandteil für die erfolgreiche Energiewende in Deutschland ist die Sicherung der benötigten Fachkräfte bis 2025 und darüber hinaus – insbesondere mit der Ambition, die lokale Fertigung und Wertschöpfungskette auszubauen. Gleichzeitig bietet insbesondere der Ausbau der erneuerbaren Energien substanzielles Potenzial, Beschäftigung in teilweise strukturschwachen Regionen in signifikantem Maße anzusiedeln. In dieser ohnehin angespannten Situation bewirkt ein weiter beschleunigter Ausbau, dass mehr als 180.000 zusätzliche Arbeitskräfte für Entwicklung, Installation und Betrieb der entsprechenden Anlagen benötigt würden. Um den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften bis 2025 und darüber hinaus nachhaltig zu sichern, sollten zielgerichtet Maßnahmen ergriffen werden, um Engpassrisiken proaktiv anzugehen. Dabei gibt es grundsätzlich drei Ansätze: Anziehung/Abwerbung von Arbeitskräften aus angrenzenden Branchen und Märkten, Ausbildung zusätzlicher Arbeitskräfte als langfristige und strukturelle Maßnahme sowie Umschulung (Reskilling) der vorhandenen Belegschaft als kurzfristiges Mittel, um einem akuten Engpass vorzubeugen.